Leichtathletik
Wie Heidi zu Andreas Krieger wurde: Mädchen – Doping – Mann

Andreas Krieger gewann 1986 als Heidi Krieger für die DDR EM-Gold im Kugelstossen – ein Besuch in Magdeburg: Wären Sie heute noch eine Frau, wenn es die DDR nie gegeben hätte? Andreas Krieger überlegt lange und sagt: «Das weiss ich nicht.»

François Schmid-Bechtel, Magdeburg
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Andreas als Heidi: Krieger stösst an der EM 1986 21,10 m.

Andreas als Heidi: Krieger stösst an der EM 1986 21,10 m.

imago sportfotodienst

Der Mann am Berliner Hauptbahnhof sieht zerknittert aus. Aber freundlich ist er. Schliesslich will er etwas verkaufen. Ein Strassenmagazin. Aber brauch ich nicht. Bin nur auf der Durchreise. Trotzdem: Einen Euro soll er kriegen. Dafür will ich Informationen über Magdeburg, mein Reiseziel. «Fragen Sie einen Westdeutschen nicht nach Dunkel-Deutschland», blafft er.

Die Mauer ist 25 Jahre nach ihrem Fall nicht aus den Köpfen raus. Auch Andreas Krieger erlebt immer wieder mal einen Rückfall. Letztmals, als die DDR-Radsportlegende «Täve» Schur vor zwei Jahren ihre Biographie vorgestellt hat. Krieger ist mit seinem Freund, dem ehemaligen Radfahrer Uwe Trömer hin. Schrecklich sei es gewesen, diese ewig gestrigen Taschenträger wieder zu sehen.

«Es wär, als gäbe es die DDR noch heute. Und da sass der Schur und erzählte 45 Minuten lang absoluten Stuss», weil er den Doping-Missbrauch in der DDR auch banalisiere. «Rücken wir das Bild mal gerade», raunte Trömer seinem Freund ins Ohr, stand auf und rief in den Saal: «Meine Mutter hat ein gesundes Kind zum Sport geschickt und ein todkrankes zurückbekommen.» «Raus, ihr Schweine, ihr Lügner. Ihr seid doch bestellt», hallte es aus dem Publikum. Draussen flossen die Tränen.

Ein Drama aus dem DDR-Sport

Krieger, ausgelaugt von der Arbeit als Paket-Auslieferer, sitzt in seiner Magdeburger Mietswohnung neben seiner Frau Ute auf einem beigen Ledersofa. Was die beiden erzählen, ist ein Drama aus dem DDR-Sport.

Andreas und Ute Krieger-Krause.

Andreas und Ute Krieger-Krause.

Mathias Marx

Andreas ist 1965 in Berlin als Heidi Krieger zur Welt gekommen. Zwei ältere, ein jüngerer Bruder. Heidi ist ein grosses, schlankes, aber ein wildes Mädchen. Zäh und wild. Sich schön machen, Prinzessin spielen – das interessiert sie nicht. Und wenn sie mal einen Rock trägt, sagt man ihr, sie solle sich gefälligst wie ein Mädchen bewegen. In der Schule ist sie schlecht. 3,5 im Schnitt. Durch einen Klassenkameraden kommt sie mit elf zur Leichtathletik. Am meisten Spass machen ihr die Wurfdisziplinen.

Die Talentspäher sagen ihr: «Mädchen, du hast Talent. Aber du musst dich in der Schule verbessern, sonst können wir dich nicht zur Sportschule delegieren.» Heidi strengt sich an. Verbessert den Notenschnitt auf 2,5 und darf auf die Kinder- und Jugendsportschule des SC Dynamo Berlin.

Heidi hält es auf der Sportschule nach einem Jahr nicht mehr aus, will hinschmeissen und büxt aus. Obwohl ihr der Sport viel bedeutet und sie jeweils «stolz wie Bolle» ist, wenn sie eine Medaille um den Hals gehängt bekommt. Die Funktionäre bearbeiten die Mutter. Heidi geht wieder zum Sport, aber nicht mehr zurück ins Internat.

Mit elf Jahren entdeckt

Ute Krieger-Krause (49) ist elf, als sie von den Talentspähern «aufgegriffen» wird. Sie träumt nicht von einer glorreichen Zukunft als sozialistische Vorturnerin mit direktem Draht in die Parteispitze, einem Wartburg in der Garage, einem Kühlschrank in der Küche und einer Datsche auf dem Land. Sie will einfach nur Weltmeisterin im Schwimmen werden. Dafür schuftet sie. Zwölf Stunden am Tag. Ute gleitet durchs Wasser. Nur sechs Jahre später wird es zum Feind. Das Wasser umarmt sie nicht mehr, das Wasser schlägt sie nur noch.

14 ist sie, als sie neben den weissen Vitaminpräparaten erstmals die türkisfarbenen Pillen schlucken muss. Als später die Dosis erhöht wird, explodiert der Körper. «Innerhalb von drei Monaten habe ich zehn Kilo zugenommen.» Mit diesem Körper kann sie aber nicht mehr umgehen, nicht mehr schwimmen. Aber Fragen waren nicht erlaubt. «Nimm die Pillen und sprich mit keinem darüber», hiess es von den Trainern. Mit wem auch hätten die Kinder darüber reden sollen? Schliesslich waren die Trainer meist die einzige Bezugsperson dieser aufgeputschten Sportlerinnen.

Die Pillen nagen an der Psyche

Die Pillen verändern nicht nur Utes Körper, sondern nagen wie ein gefrässiges Tier an der Psyche. Ute hat Essstörungen und Depressionen. Mit 17 gibt sie auf und fällt in ihrer Desorientierung in ein noch grösseres Loch, weil nichts mehr so ist, wie es war. Kein strukturierter Tagesablauf. Kein Traum. Keine Perspektive. Schlimmer noch. Ute wurde in die Psychiatrie abgeschoben.

Eine Packung Oral-Turinabol.

Eine Packung Oral-Turinabol.

AP

Als sie wieder rauskommt, beginnt sie mit der Ausbildung zur Krankenschwester. Da begegnete sie während einer Nachtschicht wieder diesen türkisfarbenen Pillen. Erst da bekommt die Pille einen Namen: Oral-Turinabol. Erst jetzt sieht sie erstmals die Verpackung und den Beipackzettel. Aber die Angst ist so gross, dass sie den Beipackzettel erst drei Tage später liest.

«Ach du Scheisse, das haben wir im Sport gekriegt. Dabei haben sie uns stets vorgemacht, es seien bloss Vitamine und Mineralstoffe.» Ute spricht daraufhin die Ärzte an, läuft aber gegen eine Mauer und kriegt von der Oberschwester zu hören, dass sie die Fragerei gefälligst bleiben lassen soll.

Von Anabolikum war nicht die Rede

Heidi ist 16, als sie mit Oral-Turinabol «angefüttert» wird. Natürlich heisst es auch bei ihr, dass es sich um unterstützende Mittel und nicht um ein Anabolikum handelt. Schnell nimmt sie an Muskelmasse zu. Hinterfragen? Warum auch. «Im Sportforum hat man lauter so kräftig und starke Frauen um sich. Für mich war es normal, so auszusehen. Ich fand die Muskelmasse sogar toll. Denn sie stärkte mein Selbstbewusstsein.»

Je massiger Heidi wurde, desto häufiger wurde sie auf der Strasse als «Tunte» bezeichnet. «Dass man mich nicht schön findet, war mir egal. Aber die ständigen Konfrontationen wurden zu viel für mich.» Die Kugelstösserin Heidi war gefangen in der Werfer-Szene.

Oral-Turinabol bewirkt eine Leistungsexplosion. Sie ist in der Lage, innerhalb von 14 Tagen 100 Tonnen im Kraftraum zu stemmen. Aber als Heidi 14 Tage in Urlaub darf und keine Mittel verschrieben bekommt, verliert sie zehn Kilo. Heidi ist sich der Veränderung bewusst. Aber sie kann sie nicht in Worten greifen. Sie wird aggressiver, auch sich selbst gegenüber. Um sich noch zu spüren, trainiert sie über die Schmerzgrenze hinaus. Die Schmerzen scheinen ihr zu beweisen, dass sie noch da ist.

Der grosse Moment für Heidi Krieger

Heidi wirft die Kugel immer weiter. Phasenweise wird ihr fünfmal so viel Testosteron verabreicht, als ein männlicher Körper produziert. Im Sinne des Doping-Staatsplans bedeutet das: Heidi ist perfekt präpariert.

Der grosse Moment. Heidi Krieger reist 1986 mit 21 an die Leichtathletik-Europameisterschaft nach Stuttgart. «Wann ich zuvor die letzte Pille genommen habe, weiss ich nicht mehr. Zehn Tage vor der Ausreise durfte man aber nichts mehr nehmen. Es hiess: Nimm nichts mehr zu dir, ohne dass es der Arzt weiss. Weil aber die Leistung zehn Tage nach der letzten Pille rapide zurückging, gab es eine Überbrückungsspritze. Was das war, weiss ich bis heute nicht. Aber so wurde die Leistungsfähigkeit konserviert.»

Und wie sie konserviert wurde. Heidi, 1,87 m gross und 100 Kilo schwer, stösst die Kugel am 26. August 1986 im ersten Versuch auf 21,10 Meter. Sie verbessert damit ihre Bestweite um 37 Zentimeter und gewinnt die Goldmedaille. Erich Honecker schickt der «lieben Sportkameradin Heidi Krieger» noch am selben Abend ein Telegramm. Und Heidi ist in diesem Moment mächtig stolz, es im Westen den Kapitalisten gezeigt zu haben.

Der Stolz ist weg

Heute ist vom Stolz etwa so viel geblieben wie von Heidi. Denn heute sagt Andreas Krieger: «Ich habe betrogen. Zwar ohne es zu wissen. Trotzdem: Ich habe betrogen.» Die EM-Goldmedaille hat er deshalb dem Doping-Opfer-Hilfe-Verein gestiftet. Seit 2000 wird sie an Menschen vergeben, die den Kampf gegen Doping im Sport annehmen.

Rückenschäden, verkalkte Oberschenkel, kaputte Finger – Heidi ist schon mit 21 ein Wrack und beendet bald darauf ihre Karriere. Doch es dauert Jahre, bis sie versteht, was mit ihr passiert ist. 1991 bekommt sie von ihrer Mutter ein Buch von Professor Werner Franke und Brigitte Berendonk, einer früheren Diskuswerferin aus der Bundesrepublik Deutschland.

Keine Rente für Doping-Opfer

Nur knapp 17 Millionen Einwohner - aber eine Sportgrossmacht. Für die DDR war der Sport das wichtigste Vehikel für den politischen Klassenkampf. Doch es gibt sie, die Kehrseite der Medaille: Doping. In vielen Sportarten wurden schon 13- und 14-Jährige mit Dopingmitteln versorgt. Es gibt Unterlagen, die beweisen, dass alle DDR-Nationalmannschafts-Schwimmerinnen ab dem 14. Lebensjahr in Anabolika-Programme des Verbandes aufgenommen wurden. Die Folgen der Menschenversuche im Namen des Sports: Arthrose, chronische Eierstockentzündungen, Klitorisverlängerung, kaputte Wirbelsäulen, Depressionen, Krebs. Ja, sogar missgebildete Kinder. Ute Krieger litt bis 2002 an Essstörungen und bis heute an Depressionen, weswegen sie arbeitsunfähig ist.
Zwischen 10 000 und 12 000 Sportlern soll in der DDR Doping verabreicht worden sein. 200 hat die Bundesrepublik als Doping-Opfer anerkannt. Doch mit der Anerkennung hat es gedauert. Erst im Jahr 2000, elf Jahre nach dem Mauerfall, wurde der langjährige DDR-Sportchef Manfred Ewald wegen «Beihilfe zur vorsätzlichen Körperverletzung in 20 Fällen» zu 22 Monaten auf Bewährung verurteilt. Sportmediziner Manfred Höppner, Architekt des Dopingkonstrukts, kam mit 18 Monaten auf Bewährung davon. Und die anerkannten Opfer? Sie erhielten nach zähen Verhandlungen eine Entschädigung von 9800 Euro, was oft nicht mal zur Deckung der Arzneimittel reicht. Auf eine kleine Rente hoffen die Doping-Opfer aber bis heute vergeblich. (FSC)

«Da steht drin, dass du gedopt wurdest», sagt die Mutter. Doch Heidi ignoriert das Buch. «Das ist westliche Propaganda. Über DDR-Werferinnen wurde in den Westmedien auch behauptet, ihnen würden Brust- und Barthaare wachsen.» Aber solche kann sie an sich nicht entdecken.

«Jetzt ist das Bild für mich klar ersichtlich»

Heidi verliebt sich in eine Frau, obwohl sie nicht lesbisch ist. Und stellt sich dennoch immer dieselbe Frage: Was stimmt nicht mit mir? Ein Bekannter kann ihr helfen. Er gibt ihr die Antwort, nach der sie Jahre gesucht hat. «Du bist transsexuell», sagt er. 1995 sucht Heidi Krieger einen Arzt auf, der auf Transsexualität spezialisiert ist. Ihm vertraut sie sich an. Der Arzt will von ihr wissen, ob sie im Sport je gedopt hatte. «Ich habe nie zu Dopingmitteln gegriffen und wurde nie gedopt», behauptet sie. «Das hätte ich doch merken müssen.»

Kurz nach der Operation muss Andreas Krieger vor Gericht aussagen. Es geht um Dopingmittelvergabe an Minderjährige. Aber Andreas will nicht. Seine Strategie ist ein Cut. Denn Heidi gibt’s nicht mehr. Also beauftragte Andreas einen Anwalt, um aus der Sache raus zu kommen. «Da kommen sie nicht drum herum», sagte der Anwalt.

Andreas Krieger kontaktierte Professor Franke. Andreas Krieger: «Ich will von ihnen wissen: Hängt meine veränderte Biografie mit dem Dopingkonsum zusammen?» Franke: «Es ist möglich, dass Teenager in der Pubertät geschlechtlich noch nicht festgelegt sind. Wenn man in dieser Zeit mit Hormonen arbeitet, kann das wie ein Katalysator in eine Richtung wirken.» Krieger: «Danke, jetzt ist das Bild für mich klar ersichtlich.»